Leben im besetzten Westjordanland
Anders sein, den eigenen Weg gehen wollen.
In einer Gesellschaft, die auf enge Beziehungen innerhalb der Familien und den Status nach außen extrem bedacht ist, gibt es dafür wenig Platz. Jedes einzelne Mitglied repräsentiert automatisch auch die Familie in seinem Handeln nach außen. Um die Ordnung aufrecht zu erhalten, gibt es daher klare Hierarchien und Strukturen der Zuständigkeiten. Beispielsweise einen Muhtarram, eine "respektierte" Person. Der älteste Mann im Familienstamm entscheidet so beispielsweise über Hochzeitsgesuche und Kontakte zu anderen Familien. Hinzu kommt die religiöse Bindung, die einen gemeinschaftlichen Schirm über die einzelnen Clans spannt. In diesem Kontext ist es eine große Herausforderung, sich zu emanzipieren und damit von den Vorstellungen der Familienmitglieder abzuweichen. Einer meiner Freunde führt einen jahrelangen Kampf mit seinem Vater, lediglich seine eigenen Klamotten tragen zu dürfen. Auf mich wirkt sein Style erfrischend gewohnt und der westlichen Modeindustrie entsprechend. Hier fällt er deutlich auf und zieht im Alltag Kommentare und böse Blicke auf sich. Daher sagte sein Vater einmal sinngemäß zu ihm: Egal wo auf der Welt du bist, wenn du dir ein Tattoo machen lässt, komme ich persönlich vorbei und reiße es dir aus der Haut. Piercings sind auch tabu, werden als schwul angesehen. Und Homosexualität wird großflächig angefeindet. Ich erinnere mich an einen Ausflug mit den Scouts, der dauerhaft mit Witzen über Schwule gefüllt worden ist. So sitzt mir ein anderer Freund gegenüber und gesteht, dass er homosexuell ist. Seit jeher versteckt er diese Eigenschaft, die essentiell zu ihm gehört. Seine Familie darf es nicht wissen, nur einige Freunde. Er werde nie er selbst seien können in diesem Land, keiner wird ihn so akzeptieren. Ins Ausland würde er natürlich gerne, aber gerade muss er für die Familie das Geld verdienen. Außerdem sei man doch mit einem palästinensischen Pass quasi staatenlos, keiner wolle einen haben. Ein anderer Freund wiederum hat seine Haare zu einem Zopf zusammengebunden. Wenn er durch die Straßen Bethlehems laufe werde er daher täglich von den Souvenir-Shop-Besitzern wie ein Tourist behandelt. Egal, wie oft er sich erkläre und auf arabisch antworte. Als Ausländer wiederum kann man sich hier viel erlauben. Man gehört ja familiär nicht zu Palästina dazu. Vielleicht ist dieses konservative Pochen auf die Familie auch der politischen Situation geschuldet: Dauerhaft muss man sich der eigenen Wurzeln im Land vergegenwärtigen.
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May 2023
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