Leben im besetzten Westjordanland
Nun ist fast schon die Hälfte meiner Zeit in Palästina/Israel vorüber. Der Gedanke, nur noch bis August hier sein zu dürfen, kann da schon etwas beängstigend sein. Die Zeit verging aus meiner Sicht relativ schnell und so viele Dinge möchte ich hier noch erleben. Dennoch scheinen die Erinnerungen an das Ankommen hier im heißen September schon ganz schön weit in der Vergangenheit zu liegen und der ein oder andere Gedanke an Dinge, die ich von zu Hause vermisse, schleicht sich ein.
Um über genau diese Erfahrungen zu sprechen und die bisherige Zeit zu reflektieren, bin ich vom 30.01. bis zum 05.02. für eine Woche mit 13 anderen Freiwilligen zu einem Zwischenseminar zusammengekommen. Praktischer Weise kommen wir alle aus einem mehr oder weniger arabischen Kontext: sechs Freiwillige arbeiten in der deutschen Auslandsschule Talitha Kumi in Beit Jala, vier weitere in der Jerusalemer Altstadt, zwei in Amman (Jordanien) und eine Freiwillige in Beit Sahour. Gemeinsam durften wir in einem christlichen Kibbuz im Norden Israels wohnen. Grob gesagt ist ein Kibbuz eine kollektive Siedlung, die typisch für die israelischen Einwanderer des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts war. Auf dem Programm standen unter anderem Workshops zur interkulturelle Kommunikation und zur Reflexion unserer bisherigen Arbeit und deren Strukturen. Wir kamen also viel ins Gespräch über unsere Erlebnisse in dieser so besonderen Gegend, in der wir leben dürfen. Sehr spannend waren auch die Gespräche und Ausflüge, die wir unternahmen. An den ersten beiden Tagen hatten wir zwei sehr gegensätzliche Gesprächspartner, die uns die Narrative im anhaltenden Konflikt widergespiegelt haben. Der ehemalige israelische Soldat Anna Shay sprach mit uns über seine Vergangenheit beim Militär und die daraus resultierende Sicht auf das Heilige Land. Sein Antagonist war ein Hochschul-Lehrer, der spannende Thesen zum arabischen Leben in Israel formulierte. Mir rauchte nach den jeweiligen Darstellungen immer der Kopf im Anbetracht der so komplexen und verfahrenen Situation. Anschließend ging es für uns an eine arabische Schule in der Nähe des Kibbuz, in der wir mit den Schülerinnen und Schülern sprechen konnten. Gerade die Schülerinnen waren sehr offen, über ihr Leben zu erzählen. Sie sehen sich selbst als Palästinenserinnen und das gesamte Israel/Palästina als ihr Heimatland Palästina. In Israel könnten sie mehr Freiheiten genießen als die Menschen in der West Bank, aber fühlten sich hier institutionell diskriminiert. Daher sei es für sie schwieriger, an einer Universität zu studieren. Ihre Zukunft sehen sie eher außerhalb des Heimatlandes und möchten dort technischen Berufen nachgehen. Insgesamt machen sie auf mich einen liberaleren Eindruck, als die Schülerinnen, die ich in der West Bank kennengelernt habe. Die Schüler wiederum können kaum Englisch sprechen oder sind nicht wirklich an einem Gespräch interessiert. Ihre Klassenkameradinnen kommentieren nur: "typisch arabische Männer". Am nächsten Tag unternahmen wir einen Ausflug auf die Golan-Höhen. Das eigentlich zur Syrien gehörende Gebiet, dass von Israel annektiert worden ist, besitzt viel fruchtbaren Boden für Landwirtschaft sowie Quellen des wichtigen Jordan-Flusses. Nicht zuletzt ist es auch sensibel, da syrische Truppen von dort aus die gute Feuerposition auf israelisches Gebiet hätten. Von einem Berg aus konnten wir die UN-Pufferzone zwischen den Konfliktparteien sehen sowie erste syrische Städte. Unser Blick war ehemals jener von Soldaten, die dort in einem Bunker ausharrten. Daher kann man auf den umliegenden Erhöhungen zahlreiche israelische Militärstellungen erkennen. In Richtung des 2800m hohen Berge Hermon besuchten wir ein Drusendorf. Dort leben Araber, die der Religion des Drusentum angehören. Sie bilden eine kleine Gruppe in Israel und leben in einigen wenigen Dörfern auf den Golan-Höhen. Zu der genauen politischen Lage der Golan-Höhen empfiehlt sich natürlich eine eigene Recherche. Eine unserer letzten Besuche war der eines Reform-Rabbiners. Diese Gruppe innerhalb des Judentums legt die Religion freier und aus meiner Sicht liberaler aus als die orthodoxen Juden, die in Israel großen institutionellen Einfluss haben. Die Bewegung hat in den USA viele Anhänger, aber nur sehr wenig Zuspruch innerhalb Israels. So darf ein Reform-Rabbiner beispielsweise offiziell keine Paare verheiraten. Jedoch sprach sich unser Gesprächspartner sogar auch für gleichgeschlechtliche Beziehungen aus, was man ja keinesfalls den Menschen verbieten könne. In unserem Gespräch äußerte er sich sehr der arabischen Minderheit zugewandt. Man müsse verstehen, dass die Bevölkerungsgruppen eine gemeinsame Verantwortung füreinander haben. Daher strebe er aus Zusammenarbeit mit den umliegenden arabische Dörfern an. Probleme, die diese haben, seien Probleme der ganzen Gemeinschaft im Heiligen Land. Perspektivisch könne so ein friedliches Zusammenleben nur auf gegenseitiger Zuwendung und Respekt erfolgen. Offen äußerte er sich so auch zu politischen Lösungen, zwei Staaten zu etablieren oder gar einen gemeinsamen Staat mit neuer Identität zu schaffen. Mit vielen Eindrücken und Erlebnissen ging so unser Zwischenseminar in Nes Ammim und Umgebung zu Ende.
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May 2023
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