Leben im besetzten Westjordanland
Das Auto ist den Menschen in Palästina wirklich heilig. Nicht selten sieht man Aufkleber mit der stolzen Verkündung "King of the Road" auf den Heckscheiben. Häufig auch gepaart mit einer Deutschland-Flagge, denn da kommen viele der begehrten Markenfahrzeuge schließlich her.
Mit dieser Verehrung hängt sicherlich auch das große Taxi-Business in der West Bank zusammen. Überall sieht man die gelben Autos, die nach den Vorlieben des jeweiligen Fahrers gestaltet sind. So ganz habe ich dieses Konzept bisher nicht verstanden. Ein öffentliches Busnetz gibt es praktisch nicht, obwohl die Taxi-Fahrten mit einem Pauschalpreis von 4-6 Euro zwar nicht sonderlich teuer, doch auf Dauer nicht zu finanzieren sind. Jeden Tag fragen mich aufdringliche Fahrer: "Taxi, Taxi? You want to see the Wall, Banksy, Jericho, Ramallah?" Leider muss ich dankend ablehnen, denn die Zeit und das Geld habe ich oftmals nicht. Daher kennen mich auch schon die Taxifahrer an einigen Orten und suchen schon gar nicht mehr das Gespräch. Vor einigen Wochen dann wollte ich einer deutschen Touristin helfen, die gemeinsam mit mir im Bus von Jerusalem nach Beit Jala saß. Sie geriet direkt in ein Gespräch mit den Taxifahrern, doch ich wollte ihr die Kosten ersparen und den Weg gemeinsam zu Fuß zurücklegen, wie ich es gewohnt bin. Das merkte sich einer der umstehenden Taxifahrer sehr gut. Daher konfrontierte er mich gestern beim Aussteigen aus dem Bus vorwurfsvoll. Er war eindeutig wütend, da er dachte, ich hätte ihm wieder die Kundschaft durch Gespräche und Warnungen im Bus verdorben. Mit entsprechend beleidigender Sprache warf er mir das nun vor. Für mich eine schlechte Situation, da ich keineswegs in Spannungen mit den gut vernetzten Taxifahrern geraten möchte. Und dennoch die Frage, ob ich diesen lieber ihre Kundschaft überlassen sollte oder den Touristen, wie ich es ja schließlich auch bin, helfen sollte. Schließlich beteuerte ich ihm gegenüber, gelernt zu haben, nicht die Touristen zum Laufen zu überreden. Etwas anderes blieb mir auch gar nicht übrig, weil mein Gesprächspartner direkt mit einer Auflistung des ganzen kollektiven palästinensischen Leids begann. Natürlich direkt zusammenhängend mit der eigenen finanziellen Situation. Was soll man da als Ausländer sagen? Anstatt aber verfeindet auseinanderzugehen, verabredeten wir uns auf einen Kaffee für das nächste Mal. Es scheint mir eher, als habe der Mann mal seinen Frust abladen müssen. Sehr reflektiert ging er dann auf die Solidarität von Ausländern ein und war erfreut, dass ich aus Deutschland komme. Das hat sowohl in Israel als auch in Palästina keinen geringen Stand. Persönlich bleibt mir die Situation der Taxifahrer immer noch rätselhaft: Warum müssen sich so viele Männer jeden Tag auf Menschenfang begeben und ständig abgewiesen werden? Selbst nach einer Fahrt beginnt dann die Suche von Neuem. Dauerhaft wartet man mit seinen Kollegen auf Kundschaft. Stattdessen könnte es doch ein organisiertes Busnetz geben. Das würde den Fahrtgästen viel Geld sparen und wäre deutlich besser für die Umwelt. Doch was würden dann die Taxifahrer arbeiten? Und viel eher noch: Wie soll es ein solches Projekt jemals geben in der zerstückelten West Bank ohne richtige Regierung?
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Während meines Zwischenseminars in Nes Ammim haben wir uns mit Yousef getroffen, einem arabischen Israeli. Er ist Hochschullehrer und beschäftigt sich seit Jahren intensiv mit der Politik in Israel und Palästina. Einige seiner Argumente konnte ich mitschreiben und werde sie hier wiedergeben.
Yousef selbst kommt aus dem Norden des heutigen Israels, wobei jedoch ein Großteil seiner Familie bei der sogenannten Nakba (arabisch für Katastrophe) 1948 vertrieben worden sei. Daher habe man auch ihm selbst mehrfach nahegelegt, das Land zu verlassen und in arabische Nachbarstaaten auszuwandern. Sich selbst beschreibt er betont zu aller erst als Mensch, als human being, und erst anschließend als Araber und Israeli. Diese beiden oft gegensätzlich gebrauchten Identitäten versucht er damit zu verbinden. So habe es auch vor einigen Jahren eine Israelisierung gegeben: Die arabische Minderheit in Israel habe sich versucht, im Lebensstil und den Werten der jüdischen Mehrheit anzupassen. Dies sei jedoch durch das Nationalitätsgesetz von 2018 rückgängig gemacht worden, was sich deutlich auf den jüdischen Charakter Israels fokussiere. Daher würden die Araber diskriminiert und von der Teilhabe an der Gesellschaft institutionell ausgeschlossen. Seitdem habe eine stärkere Konzentration auf die Identität als Palästinenser bei der arabischen Minderheit eingesetzt. Politisch sieht er den Konflikt in seinem Heimatland als Kampf um das Land, was er als unmittelbar als Kampf ums Überleben beschreibt. Obwohl er persönlich die Situation nicht dramatisiere, sei die Basis des Problems ganz einfach, dass den Arabern ihr Zuhause geklaut werde und insgesamt auch ihre Identität. Trotzdessen seien sie Teil des Systems und der Ökonomie und hielten die Gesellschaft am Laufen. Wenn also die arabische Minderheit etwas für sich zum Besseren verändern möchte, müsse sie auch Teil des politischen Spiels werden. So habe es bereits Verbesserungen für ihre Situation durch eine arabische Beteiligung an der letzten Regierung gegeben. Da aber viele nicht wählen gehen würden, ergatterten ihre Abgeordneten anstatt 24 der möglichen Sitze lediglich 13. Die Formel "we agree not to agree", die die arabische Haltung bestimmt habe, halte er für gefährlich, da sie Spaltungen nur zementiere. Hingegen müssten eben die vielen politischen Strömungen gemeinsam an der Vertretung der Araber arbeiten. Für eine friedliche Lösung des Konflikts sieht Yousef die ökonomische, soziale und rechtliche Gleichstellung als Vorbedingung. Man könne nicht mit Menschen um politische Fragen gerecht und zielführend verhandeln, wenn diese gar nicht ihre existenziellen Bedürfnisse decken könnten. Als weitere Hindernisse sieht er dabei, dass die anderen arabischen Länder keinen palästinensischen Staaten wirklich wollten. Hinzu komme eine Einstellung, die Yousef mit dem eindringlichen Ausruf kommentiert: Dont ever present yourself as a victim! Wenn man schlau sei, gebe man anderen nicht die Macht, einen zu erniedrigen. Als große Gefahr sieht er zudem die Entwicklungen in Israel das Rechtssystem betreffend. Da es keine Verfassung gebe, auf die man verpflichtet sei, würde durch die Reformen der Spielraum für einschneidende Vorhaben der politischen Rechte geöffnet. Als mögliches Ziel der Regierungspläne sieht er eine Annektierung des Westjordanlandes. Nun ist fast schon die Hälfte meiner Zeit in Palästina/Israel vorüber. Der Gedanke, nur noch bis August hier sein zu dürfen, kann da schon etwas beängstigend sein. Die Zeit verging aus meiner Sicht relativ schnell und so viele Dinge möchte ich hier noch erleben. Dennoch scheinen die Erinnerungen an das Ankommen hier im heißen September schon ganz schön weit in der Vergangenheit zu liegen und der ein oder andere Gedanke an Dinge, die ich von zu Hause vermisse, schleicht sich ein.
Um über genau diese Erfahrungen zu sprechen und die bisherige Zeit zu reflektieren, bin ich vom 30.01. bis zum 05.02. für eine Woche mit 13 anderen Freiwilligen zu einem Zwischenseminar zusammengekommen. Praktischer Weise kommen wir alle aus einem mehr oder weniger arabischen Kontext: sechs Freiwillige arbeiten in der deutschen Auslandsschule Talitha Kumi in Beit Jala, vier weitere in der Jerusalemer Altstadt, zwei in Amman (Jordanien) und eine Freiwillige in Beit Sahour. Gemeinsam durften wir in einem christlichen Kibbuz im Norden Israels wohnen. Grob gesagt ist ein Kibbuz eine kollektive Siedlung, die typisch für die israelischen Einwanderer des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts war. Auf dem Programm standen unter anderem Workshops zur interkulturelle Kommunikation und zur Reflexion unserer bisherigen Arbeit und deren Strukturen. Wir kamen also viel ins Gespräch über unsere Erlebnisse in dieser so besonderen Gegend, in der wir leben dürfen. Sehr spannend waren auch die Gespräche und Ausflüge, die wir unternahmen. An den ersten beiden Tagen hatten wir zwei sehr gegensätzliche Gesprächspartner, die uns die Narrative im anhaltenden Konflikt widergespiegelt haben. Der ehemalige israelische Soldat Anna Shay sprach mit uns über seine Vergangenheit beim Militär und die daraus resultierende Sicht auf das Heilige Land. Sein Antagonist war ein Hochschul-Lehrer, der spannende Thesen zum arabischen Leben in Israel formulierte. Mir rauchte nach den jeweiligen Darstellungen immer der Kopf im Anbetracht der so komplexen und verfahrenen Situation. Anschließend ging es für uns an eine arabische Schule in der Nähe des Kibbuz, in der wir mit den Schülerinnen und Schülern sprechen konnten. Gerade die Schülerinnen waren sehr offen, über ihr Leben zu erzählen. Sie sehen sich selbst als Palästinenserinnen und das gesamte Israel/Palästina als ihr Heimatland Palästina. In Israel könnten sie mehr Freiheiten genießen als die Menschen in der West Bank, aber fühlten sich hier institutionell diskriminiert. Daher sei es für sie schwieriger, an einer Universität zu studieren. Ihre Zukunft sehen sie eher außerhalb des Heimatlandes und möchten dort technischen Berufen nachgehen. Insgesamt machen sie auf mich einen liberaleren Eindruck, als die Schülerinnen, die ich in der West Bank kennengelernt habe. Die Schüler wiederum können kaum Englisch sprechen oder sind nicht wirklich an einem Gespräch interessiert. Ihre Klassenkameradinnen kommentieren nur: "typisch arabische Männer". Am nächsten Tag unternahmen wir einen Ausflug auf die Golan-Höhen. Das eigentlich zur Syrien gehörende Gebiet, dass von Israel annektiert worden ist, besitzt viel fruchtbaren Boden für Landwirtschaft sowie Quellen des wichtigen Jordan-Flusses. Nicht zuletzt ist es auch sensibel, da syrische Truppen von dort aus die gute Feuerposition auf israelisches Gebiet hätten. Von einem Berg aus konnten wir die UN-Pufferzone zwischen den Konfliktparteien sehen sowie erste syrische Städte. Unser Blick war ehemals jener von Soldaten, die dort in einem Bunker ausharrten. Daher kann man auf den umliegenden Erhöhungen zahlreiche israelische Militärstellungen erkennen. In Richtung des 2800m hohen Berge Hermon besuchten wir ein Drusendorf. Dort leben Araber, die der Religion des Drusentum angehören. Sie bilden eine kleine Gruppe in Israel und leben in einigen wenigen Dörfern auf den Golan-Höhen. Zu der genauen politischen Lage der Golan-Höhen empfiehlt sich natürlich eine eigene Recherche. Eine unserer letzten Besuche war der eines Reform-Rabbiners. Diese Gruppe innerhalb des Judentums legt die Religion freier und aus meiner Sicht liberaler aus als die orthodoxen Juden, die in Israel großen institutionellen Einfluss haben. Die Bewegung hat in den USA viele Anhänger, aber nur sehr wenig Zuspruch innerhalb Israels. So darf ein Reform-Rabbiner beispielsweise offiziell keine Paare verheiraten. Jedoch sprach sich unser Gesprächspartner sogar auch für gleichgeschlechtliche Beziehungen aus, was man ja keinesfalls den Menschen verbieten könne. In unserem Gespräch äußerte er sich sehr der arabischen Minderheit zugewandt. Man müsse verstehen, dass die Bevölkerungsgruppen eine gemeinsame Verantwortung füreinander haben. Daher strebe er aus Zusammenarbeit mit den umliegenden arabische Dörfern an. Probleme, die diese haben, seien Probleme der ganzen Gemeinschaft im Heiligen Land. Perspektivisch könne so ein friedliches Zusammenleben nur auf gegenseitiger Zuwendung und Respekt erfolgen. Offen äußerte er sich so auch zu politischen Lösungen, zwei Staaten zu etablieren oder gar einen gemeinsamen Staat mit neuer Identität zu schaffen. Mit vielen Eindrücken und Erlebnissen ging so unser Zwischenseminar in Nes Ammim und Umgebung zu Ende. |
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May 2023
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