Leben im besetzten Westjordanland
Anhand der Arbeit des AEI kann man sehen, wie motivierend und zugleich demotivierend die Tätigkeiten von NGOs in Palästina sind, die sich im sozialen Bereich engagieren. Fuad erzählt Besuchern oft von der Gründungszeit des Instituts unter den Umständen der ersten Intifada. Der Drang nach Wissen und Bildung hat die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des AEI ins private Risiko gezwungen, Kinder und Jugendliche zu unterrichten - mit allen erdenglichen Mitteln. Beispielsweise bei Fuad im Wohnzimmer, versammelt um die Englischen Nachrichten im Fernsehen. Durch Drohungen der Besatzungsmacht mussten sie schließen, machten aber in den Oslo-Jahren mit großer Geschäftigkeit weiter: Es gab viele Sprachkurse, Computer-Lehrgänge und Jugend- sowie Frauengruppen. Dies ist eine Veranschaulichung der Sumud, der Standhaftigkeit und Resilienz trotz der widrigen Umstände.
Heutzutage sieht die Gemengelage etwas anders aus: Gelder für Projekte aus dem Ausland fehlen, es gibt Probleme mit dem Bildungsministerium und den Schulen, die Kinder und Jugendlichen lassen sich kaum für Treffen und Veranstaltungen begeistern. Zudem ist die Stimmung innerhalb der palästinensischen Gesellschaft nicht positiv in Bezug auf ehrenamtliches und gesellschaftliches Engagement. Sahar, eine Mitarbeiterin, beschreibt, dass viele Teilnehmende an Projekten die NGOs bezichtigen, hohe Summen an ausländischen Geldern in die eigene Tasche zu wirtschaften. Projekte und Ideen einfach umzusetzen ist hier auch nicht mehr so möglich. Die Menschen fragen sich: warum soll ich da mitmachen? Was bringt mir das individuell? Wer sind diese Menschen? Aus welchen Familien kommen sie? Welche Religion haben sie? Wer steht dahinter? … Dies spiegelt insgesamt eine Gesellschaft wider, die sich nicht in der Lage sieht, ihres eigenen Schicksals Herr zu sein. Bad Governance macht sich in der eigenen Regierung breit und die Besatzung scheint stärker und gefestigter als zuvor. In wirklicher Notlage kann man sich nur selbst helfen, alle anderen schauen weg. Und so kommen viele Menschen zu dem Schluss, dass jeder und jede sich um seine oder ihre eigenen Probleme kümmern müsse – vor der eigenen Haustüre kehren, wie man es so schön ausdrückt.
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Anders sein, den eigenen Weg gehen wollen.
In einer Gesellschaft, die auf enge Beziehungen innerhalb der Familien und den Status nach außen extrem bedacht ist, gibt es dafür wenig Platz. Jedes einzelne Mitglied repräsentiert automatisch auch die Familie in seinem Handeln nach außen. Um die Ordnung aufrecht zu erhalten, gibt es daher klare Hierarchien und Strukturen der Zuständigkeiten. Beispielsweise einen Muhtarram, eine "respektierte" Person. Der älteste Mann im Familienstamm entscheidet so beispielsweise über Hochzeitsgesuche und Kontakte zu anderen Familien. Hinzu kommt die religiöse Bindung, die einen gemeinschaftlichen Schirm über die einzelnen Clans spannt. In diesem Kontext ist es eine große Herausforderung, sich zu emanzipieren und damit von den Vorstellungen der Familienmitglieder abzuweichen. Einer meiner Freunde führt einen jahrelangen Kampf mit seinem Vater, lediglich seine eigenen Klamotten tragen zu dürfen. Auf mich wirkt sein Style erfrischend gewohnt und der westlichen Modeindustrie entsprechend. Hier fällt er deutlich auf und zieht im Alltag Kommentare und böse Blicke auf sich. Daher sagte sein Vater einmal sinngemäß zu ihm: Egal wo auf der Welt du bist, wenn du dir ein Tattoo machen lässt, komme ich persönlich vorbei und reiße es dir aus der Haut. Piercings sind auch tabu, werden als schwul angesehen. Und Homosexualität wird großflächig angefeindet. Ich erinnere mich an einen Ausflug mit den Scouts, der dauerhaft mit Witzen über Schwule gefüllt worden ist. So sitzt mir ein anderer Freund gegenüber und gesteht, dass er homosexuell ist. Seit jeher versteckt er diese Eigenschaft, die essentiell zu ihm gehört. Seine Familie darf es nicht wissen, nur einige Freunde. Er werde nie er selbst seien können in diesem Land, keiner wird ihn so akzeptieren. Ins Ausland würde er natürlich gerne, aber gerade muss er für die Familie das Geld verdienen. Außerdem sei man doch mit einem palästinensischen Pass quasi staatenlos, keiner wolle einen haben. Ein anderer Freund wiederum hat seine Haare zu einem Zopf zusammengebunden. Wenn er durch die Straßen Bethlehems laufe werde er daher täglich von den Souvenir-Shop-Besitzern wie ein Tourist behandelt. Egal, wie oft er sich erkläre und auf arabisch antworte. Als Ausländer wiederum kann man sich hier viel erlauben. Man gehört ja familiär nicht zu Palästina dazu. Vielleicht ist dieses konservative Pochen auf die Familie auch der politischen Situation geschuldet: Dauerhaft muss man sich der eigenen Wurzeln im Land vergegenwärtigen. Die Altstadt von Hebron umgibt eine geisterhafte Atmosphäre. Aus den belebten und dicht besiedelten Straßen betritt man einsame Gassen mit zugeschweißten Läden und engmaschigen Gittern über den Köpfen. Unter ihnen spielt sich reduziertes Markttreiben der lokalen Palästinenser ab; über ihnen leben jüdische Siedler in Mitten der Altstadt, geschützt von schwer bewaffneten Soldaten. Auf dem Weg zum Grab von Abraham hält uns ein arabischer Straßenverkäufer an. Er erzählt uns von den Konflikten mit den Siedlern, mit ihnen sei kein Frieden zu machen. Sein Haus sei von drei Seiten von ihren Häusern und dem Militär umgeben. So zeigt er uns auch ein Video, wie israelische Soldaten seine beiden kleinen Töchter verhaften.
Wir gehen weiter, zum Checkpoint vor der Ibrahim-Moschee. Die Soldaten sind auffällig nett zu uns als Touristen, wünschen uns einen schönen Tag. Die einheimischen Muslime wiederum werden harsch kontrolliert. Da es Shabbat ist, können wir leider nicht in den Bereich der Siedler, um uns einen näheren Überblick zu verschaffen. Dafür kommen die Siedler zu uns - eher gesagt direkt durch die Altstadt. Als wir vor einem Souvenir-Shop stehen und arabischen Kaffee genüsslich schlürfen, tauchen schwer bewaffnete israelische Soldaten auf. Mit den Maschinengewehren im Anschlag halten sie eine Gasse auf dem Platz frei und drängen die umstehenden jungen Palästinenser an den Rand. Auf sie folgt eine Gruppe jüdischer Siedler, vielleicht 30 an der Zahl. Und mindestens genauso viele Soldaten. Nun stehen wir direkt neben den Soldaten, zwischen den getrennten Gruppen. Die arabischen Kinder sind die Situation gewohnt, sie gehen erschreckend locker mit der Anwesenheit von Schusswaffen um. Lieder singend provozieren sie die Siedler, zeigen Mittelfinger und beleidigen. Die Siedler wiederum filmen, wollen auf die Araber zugehen und beleidigen mindestens so lautstark. Doch die nervös um sich blickenden Soldaten sind da, sie sind nicht viel älter als ich selbst. Die gesamte Szenerie wirkt maximal absurd auf mich. Nach einigen Sekunden verschwinden die Soldaten mit den Siedlern hinter Schutzmauern und Checkpoints genauso plötzlich, wie sie gekommen sind. Doch mein bleibender Eindruck ist keiner der gegenseitigen Missgunst und des Hasses. Ich denke eher daran, dass diese Menschen doch in gegenseitiger Achtung am selben Ort zusammen leben könnten. Fast schon denke ich mir die Soldaten aus der Situation weg. Ist er das wirklich? Die Frage steht uns beiden ins Gesicht geschrieben, als wir uns zwischen herunterhängenden Kreuzen und Maria-Bildnissen stehend mustern. Dass der Laden mit dem Label „Giacaman“ versehen ist, das wusste ich bereits. Aber doch nicht gleich mit dem Nachnamen von meinem Freund Tamer.
Erstaunt über die Anwesenheit des jeweils anderen begrüßen wir uns Mitten im Souvenir-Shop. Sein Vater hatte ihn zur Unterstützung hergebeten, erklärt er. Viele Touristen sind wohl wieder auf der Suche nach einem materiellen Andenken aus der Geburtsstadt Jesu Christi. „Jetzt weißt du auch, warum ich nicht religiös bin“, sagt mir Tamer, während er auf die vielen christlichen Produkte aus dem begehrten Olivenholz deutet. „Für mich ist das alles nur Holz“. Doch gerade das möchte ich ja kaufen, als Gastgeschenk für eine arabisch-muslimische Familie, die ich am Wochenende in Nazareth besuchen. Meine Entscheidung fällt schließlich zugunsten einer kleinen Holzschatulle aus. Sie ist eines der wenigen nicht-christlichen Gegenstände im vollgestopften Laden. „Das soll also ein Geschenk werden?“, fragt Tamer. „Dann will ich dafür kein Geld haben.“ Sein eindringlicher Blick siegt anschließend gegen meine Proteste, doch etwas zu bezahlen. „Machs gut, Habibi. Wir sehen uns“, verabschiede ich mich. Abends in Tiberias am See Genezareth.
Wir ruhen uns auf einer Promenade aus bei Mondschein, direkt am Wasser, dass in sanft periodischen Bewegungen sein Kommen und Gehen abwechselt. Der Tag war für uns beide lang und daher etwas ermüdend; trotzdem möchten wir das Öffnen der Kneipen nach dem Shabbat abwarten und harren so in der langsam wieder erwachenden Stadt aus. Ein Mann schlendert vor uns entlang, lauscht dem Gespräch zwischen dem kanadischen Freiwilligen und mir und stellt sich dann vor. Schnell kommen wir ins Gespräch. Er ruft seine Mitreisenden aus North Carolina herbei, während er bereits auf dem Handy die vielen aufgenommenen Bilder der Reise sichtet, um sie uns anschließend stolz einzeln zu präsentieren. Die fünf christlichen Pilger erzählen von ihren bisherigen Ausflugszielen, die jüngsten davon natürlich am wirkträchtigen See Genezareth. Sie erwähnen viele Orte, von denen ich noch nie etwas gehört habe und Personen, deren Namen mir schon mal begegnet seien könnten. Meine fehlende Bibelbildung bereue ich in solchen Momenten immer für einige Augenblicke. Trotz ihrer wenigen Tage im Heiligen Land, haben sie gefühlt bereits mehr gesehen als ich in meinen sechs Monaten. Zumindest im religiösen Kontext. Zu unserer Freude verbrachten sie die ersten Tage am logischen Beginn einer solchen Reise, in Bethlehem. Von der Geburtskirche schwärmen sie noch immer und berichten, sogar bei einer palästinensischen Familie zum Abendessen gewesen zu sein. Mein kanadischer Freund klinkt sich beim Stichwort direkt ein und berichtet von seinen Erfahrungen mit und der Sympathie zu den leitgeplagten Menschen, die er bisher kennenlernen durfte. Wir unterhalten uns über die fehlende Staatlichkeit, Probleme mit der Müllverschmutzung und neuerlichen clashes am Checkpoint. Auch die Amerikaner bemängeln, medial eine zu einseitige Sicht der Dinge vermittelt bekommen zu haben. Sie sind froh, nun einen klareren Blick zu haben und das erfreut auch Jeremiah, meinen kanadischen Freund. Nur ich bin nicht so richtig zufrieden. In mir ringt es um die Frage, was man diesen Kurzzeit-Touristen mitgeben kann - ich suche nach Aussagen, die irgendwie beide Seiten beleuchten und der Realität gerecht werden, aber dennoch auch einen Fokus auf die Palästinenser setzen können. Zumindest traue ich den Pilgern nicht zu, in diesen wenigen Tagen einen ernsthaften Einblick in die Situation der Menschen in Bethlehem bekommen zu haben. Zu oft sehe ich die Touristen in ihren Busses auf mich und die Araber hinabschauen und frage mich, was in ihren Köpfen vorgeht. Vielleicht bemitleiden sie die Bethlehemer, die mit einer Mauer leben müssen. Dabei schwingt jedoch häufig eine herabschauende Art mit einher - verkörpert durch die Bus-Metapher. Mir würde es vermutlich auch so gehen, wenn ich in Schocktherapie die Stadt bereisen würde und jeglichen Eindruck nur von außen wahrnehmen würde, ohne echtes Gespräch mit den Menschen und Kenntnisse über sie. Doch Jeremiah teilt meine Skepsis nicht. Er findet jeden noch so kleinen Schritt lobenswert, einen Hauch der Realität zu Gesicht zu bekommen. Das sagen mir auch viele Palästinenser. Vermutlich haben sie Recht. Zum krönenden Abschluss beten wir noch zusammen. Mit geschlossnen Augen und an den Händen gefasst, drücken die Amerikaner ihre Dankbarkeit aus und bitten um Frieden und Gerechtigkeit. Und auch ich bin dankbar für dieses Gespräch. Das Auto ist den Menschen in Palästina wirklich heilig. Nicht selten sieht man Aufkleber mit der stolzen Verkündung "King of the Road" auf den Heckscheiben. Häufig auch gepaart mit einer Deutschland-Flagge, denn da kommen viele der begehrten Markenfahrzeuge schließlich her.
Mit dieser Verehrung hängt sicherlich auch das große Taxi-Business in der West Bank zusammen. Überall sieht man die gelben Autos, die nach den Vorlieben des jeweiligen Fahrers gestaltet sind. So ganz habe ich dieses Konzept bisher nicht verstanden. Ein öffentliches Busnetz gibt es praktisch nicht, obwohl die Taxi-Fahrten mit einem Pauschalpreis von 4-6 Euro zwar nicht sonderlich teuer, doch auf Dauer nicht zu finanzieren sind. Jeden Tag fragen mich aufdringliche Fahrer: "Taxi, Taxi? You want to see the Wall, Banksy, Jericho, Ramallah?" Leider muss ich dankend ablehnen, denn die Zeit und das Geld habe ich oftmals nicht. Daher kennen mich auch schon die Taxifahrer an einigen Orten und suchen schon gar nicht mehr das Gespräch. Vor einigen Wochen dann wollte ich einer deutschen Touristin helfen, die gemeinsam mit mir im Bus von Jerusalem nach Beit Jala saß. Sie geriet direkt in ein Gespräch mit den Taxifahrern, doch ich wollte ihr die Kosten ersparen und den Weg gemeinsam zu Fuß zurücklegen, wie ich es gewohnt bin. Das merkte sich einer der umstehenden Taxifahrer sehr gut. Daher konfrontierte er mich gestern beim Aussteigen aus dem Bus vorwurfsvoll. Er war eindeutig wütend, da er dachte, ich hätte ihm wieder die Kundschaft durch Gespräche und Warnungen im Bus verdorben. Mit entsprechend beleidigender Sprache warf er mir das nun vor. Für mich eine schlechte Situation, da ich keineswegs in Spannungen mit den gut vernetzten Taxifahrern geraten möchte. Und dennoch die Frage, ob ich diesen lieber ihre Kundschaft überlassen sollte oder den Touristen, wie ich es ja schließlich auch bin, helfen sollte. Schließlich beteuerte ich ihm gegenüber, gelernt zu haben, nicht die Touristen zum Laufen zu überreden. Etwas anderes blieb mir auch gar nicht übrig, weil mein Gesprächspartner direkt mit einer Auflistung des ganzen kollektiven palästinensischen Leids begann. Natürlich direkt zusammenhängend mit der eigenen finanziellen Situation. Was soll man da als Ausländer sagen? Anstatt aber verfeindet auseinanderzugehen, verabredeten wir uns auf einen Kaffee für das nächste Mal. Es scheint mir eher, als habe der Mann mal seinen Frust abladen müssen. Sehr reflektiert ging er dann auf die Solidarität von Ausländern ein und war erfreut, dass ich aus Deutschland komme. Das hat sowohl in Israel als auch in Palästina keinen geringen Stand. Persönlich bleibt mir die Situation der Taxifahrer immer noch rätselhaft: Warum müssen sich so viele Männer jeden Tag auf Menschenfang begeben und ständig abgewiesen werden? Selbst nach einer Fahrt beginnt dann die Suche von Neuem. Dauerhaft wartet man mit seinen Kollegen auf Kundschaft. Stattdessen könnte es doch ein organisiertes Busnetz geben. Das würde den Fahrtgästen viel Geld sparen und wäre deutlich besser für die Umwelt. Doch was würden dann die Taxifahrer arbeiten? Und viel eher noch: Wie soll es ein solches Projekt jemals geben in der zerstückelten West Bank ohne richtige Regierung? Während meines Zwischenseminars in Nes Ammim haben wir uns mit Yousef getroffen, einem arabischen Israeli. Er ist Hochschullehrer und beschäftigt sich seit Jahren intensiv mit der Politik in Israel und Palästina. Einige seiner Argumente konnte ich mitschreiben und werde sie hier wiedergeben.
Yousef selbst kommt aus dem Norden des heutigen Israels, wobei jedoch ein Großteil seiner Familie bei der sogenannten Nakba (arabisch für Katastrophe) 1948 vertrieben worden sei. Daher habe man auch ihm selbst mehrfach nahegelegt, das Land zu verlassen und in arabische Nachbarstaaten auszuwandern. Sich selbst beschreibt er betont zu aller erst als Mensch, als human being, und erst anschließend als Araber und Israeli. Diese beiden oft gegensätzlich gebrauchten Identitäten versucht er damit zu verbinden. So habe es auch vor einigen Jahren eine Israelisierung gegeben: Die arabische Minderheit in Israel habe sich versucht, im Lebensstil und den Werten der jüdischen Mehrheit anzupassen. Dies sei jedoch durch das Nationalitätsgesetz von 2018 rückgängig gemacht worden, was sich deutlich auf den jüdischen Charakter Israels fokussiere. Daher würden die Araber diskriminiert und von der Teilhabe an der Gesellschaft institutionell ausgeschlossen. Seitdem habe eine stärkere Konzentration auf die Identität als Palästinenser bei der arabischen Minderheit eingesetzt. Politisch sieht er den Konflikt in seinem Heimatland als Kampf um das Land, was er als unmittelbar als Kampf ums Überleben beschreibt. Obwohl er persönlich die Situation nicht dramatisiere, sei die Basis des Problems ganz einfach, dass den Arabern ihr Zuhause geklaut werde und insgesamt auch ihre Identität. Trotzdessen seien sie Teil des Systems und der Ökonomie und hielten die Gesellschaft am Laufen. Wenn also die arabische Minderheit etwas für sich zum Besseren verändern möchte, müsse sie auch Teil des politischen Spiels werden. So habe es bereits Verbesserungen für ihre Situation durch eine arabische Beteiligung an der letzten Regierung gegeben. Da aber viele nicht wählen gehen würden, ergatterten ihre Abgeordneten anstatt 24 der möglichen Sitze lediglich 13. Die Formel "we agree not to agree", die die arabische Haltung bestimmt habe, halte er für gefährlich, da sie Spaltungen nur zementiere. Hingegen müssten eben die vielen politischen Strömungen gemeinsam an der Vertretung der Araber arbeiten. Für eine friedliche Lösung des Konflikts sieht Yousef die ökonomische, soziale und rechtliche Gleichstellung als Vorbedingung. Man könne nicht mit Menschen um politische Fragen gerecht und zielführend verhandeln, wenn diese gar nicht ihre existenziellen Bedürfnisse decken könnten. Als weitere Hindernisse sieht er dabei, dass die anderen arabischen Länder keinen palästinensischen Staaten wirklich wollten. Hinzu komme eine Einstellung, die Yousef mit dem eindringlichen Ausruf kommentiert: Dont ever present yourself as a victim! Wenn man schlau sei, gebe man anderen nicht die Macht, einen zu erniedrigen. Als große Gefahr sieht er zudem die Entwicklungen in Israel das Rechtssystem betreffend. Da es keine Verfassung gebe, auf die man verpflichtet sei, würde durch die Reformen der Spielraum für einschneidende Vorhaben der politischen Rechte geöffnet. Als mögliches Ziel der Regierungspläne sieht er eine Annektierung des Westjordanlandes. Nun ist fast schon die Hälfte meiner Zeit in Palästina/Israel vorüber. Der Gedanke, nur noch bis August hier sein zu dürfen, kann da schon etwas beängstigend sein. Die Zeit verging aus meiner Sicht relativ schnell und so viele Dinge möchte ich hier noch erleben. Dennoch scheinen die Erinnerungen an das Ankommen hier im heißen September schon ganz schön weit in der Vergangenheit zu liegen und der ein oder andere Gedanke an Dinge, die ich von zu Hause vermisse, schleicht sich ein.
Um über genau diese Erfahrungen zu sprechen und die bisherige Zeit zu reflektieren, bin ich vom 30.01. bis zum 05.02. für eine Woche mit 13 anderen Freiwilligen zu einem Zwischenseminar zusammengekommen. Praktischer Weise kommen wir alle aus einem mehr oder weniger arabischen Kontext: sechs Freiwillige arbeiten in der deutschen Auslandsschule Talitha Kumi in Beit Jala, vier weitere in der Jerusalemer Altstadt, zwei in Amman (Jordanien) und eine Freiwillige in Beit Sahour. Gemeinsam durften wir in einem christlichen Kibbuz im Norden Israels wohnen. Grob gesagt ist ein Kibbuz eine kollektive Siedlung, die typisch für die israelischen Einwanderer des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts war. Auf dem Programm standen unter anderem Workshops zur interkulturelle Kommunikation und zur Reflexion unserer bisherigen Arbeit und deren Strukturen. Wir kamen also viel ins Gespräch über unsere Erlebnisse in dieser so besonderen Gegend, in der wir leben dürfen. Sehr spannend waren auch die Gespräche und Ausflüge, die wir unternahmen. An den ersten beiden Tagen hatten wir zwei sehr gegensätzliche Gesprächspartner, die uns die Narrative im anhaltenden Konflikt widergespiegelt haben. Der ehemalige israelische Soldat Anna Shay sprach mit uns über seine Vergangenheit beim Militär und die daraus resultierende Sicht auf das Heilige Land. Sein Antagonist war ein Hochschul-Lehrer, der spannende Thesen zum arabischen Leben in Israel formulierte. Mir rauchte nach den jeweiligen Darstellungen immer der Kopf im Anbetracht der so komplexen und verfahrenen Situation. Anschließend ging es für uns an eine arabische Schule in der Nähe des Kibbuz, in der wir mit den Schülerinnen und Schülern sprechen konnten. Gerade die Schülerinnen waren sehr offen, über ihr Leben zu erzählen. Sie sehen sich selbst als Palästinenserinnen und das gesamte Israel/Palästina als ihr Heimatland Palästina. In Israel könnten sie mehr Freiheiten genießen als die Menschen in der West Bank, aber fühlten sich hier institutionell diskriminiert. Daher sei es für sie schwieriger, an einer Universität zu studieren. Ihre Zukunft sehen sie eher außerhalb des Heimatlandes und möchten dort technischen Berufen nachgehen. Insgesamt machen sie auf mich einen liberaleren Eindruck, als die Schülerinnen, die ich in der West Bank kennengelernt habe. Die Schüler wiederum können kaum Englisch sprechen oder sind nicht wirklich an einem Gespräch interessiert. Ihre Klassenkameradinnen kommentieren nur: "typisch arabische Männer". Am nächsten Tag unternahmen wir einen Ausflug auf die Golan-Höhen. Das eigentlich zur Syrien gehörende Gebiet, dass von Israel annektiert worden ist, besitzt viel fruchtbaren Boden für Landwirtschaft sowie Quellen des wichtigen Jordan-Flusses. Nicht zuletzt ist es auch sensibel, da syrische Truppen von dort aus die gute Feuerposition auf israelisches Gebiet hätten. Von einem Berg aus konnten wir die UN-Pufferzone zwischen den Konfliktparteien sehen sowie erste syrische Städte. Unser Blick war ehemals jener von Soldaten, die dort in einem Bunker ausharrten. Daher kann man auf den umliegenden Erhöhungen zahlreiche israelische Militärstellungen erkennen. In Richtung des 2800m hohen Berge Hermon besuchten wir ein Drusendorf. Dort leben Araber, die der Religion des Drusentum angehören. Sie bilden eine kleine Gruppe in Israel und leben in einigen wenigen Dörfern auf den Golan-Höhen. Zu der genauen politischen Lage der Golan-Höhen empfiehlt sich natürlich eine eigene Recherche. Eine unserer letzten Besuche war der eines Reform-Rabbiners. Diese Gruppe innerhalb des Judentums legt die Religion freier und aus meiner Sicht liberaler aus als die orthodoxen Juden, die in Israel großen institutionellen Einfluss haben. Die Bewegung hat in den USA viele Anhänger, aber nur sehr wenig Zuspruch innerhalb Israels. So darf ein Reform-Rabbiner beispielsweise offiziell keine Paare verheiraten. Jedoch sprach sich unser Gesprächspartner sogar auch für gleichgeschlechtliche Beziehungen aus, was man ja keinesfalls den Menschen verbieten könne. In unserem Gespräch äußerte er sich sehr der arabischen Minderheit zugewandt. Man müsse verstehen, dass die Bevölkerungsgruppen eine gemeinsame Verantwortung füreinander haben. Daher strebe er aus Zusammenarbeit mit den umliegenden arabische Dörfern an. Probleme, die diese haben, seien Probleme der ganzen Gemeinschaft im Heiligen Land. Perspektivisch könne so ein friedliches Zusammenleben nur auf gegenseitiger Zuwendung und Respekt erfolgen. Offen äußerte er sich so auch zu politischen Lösungen, zwei Staaten zu etablieren oder gar einen gemeinsamen Staat mit neuer Identität zu schaffen. Mit vielen Eindrücken und Erlebnissen ging so unser Zwischenseminar in Nes Ammim und Umgebung zu Ende. In Israel vollzieht sich eine besorgniserregende politische Entwicklung: Die neue Regierung plant eine Justizreform, durch welche unter anderem die Knesset Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes überstimmen kann. Die Vorhaben würden den Rechtsstaats in entscheidender Weise schwächen und werden wie so häufig populistisch begründet, dass lediglich die Regierung einer demokratischen Legitimation unterstehe, das Gericht hingegen nicht. Die Mixtur aus rechtsradikalen Politikern und deren privaten Gerichtsprozessen ist gefährlich und mutet insgesamt nach Vorgängen in einer Bananenrepublik an.
Aus Besorgnis um den Zustand ihrer Demokratie gehen daher immer mehr Israelis auf die Straße. Eine dieser Demonstrationen habe ich am Wochenende in Haifa spontan begleitet. Viele Aufschriften, die die geplanten Reformen als "Diktatur" brandmarken, waren neben Plakaten mit "Israel is being killed" und "Biblical disaster" zu lesen, eine Anspielung sowohl auf Netanyahu als auch auf die heilige Schrift. Den Menschen merkte man an, dass sie es nicht gewohnt sind, für ihre Anliegen auf die Straße zu gehen. Sie rechnen sich der schweigenden Mehrheit im Land zu und drücken ihren Patriotismus durch ein Meer an Israel-Fahnen aus. Über diese hinweg hallen die Meinungen und Parolen verschiedener Sprecherinnen und Sprecher in dem mir unverständlichen Hebräisch, was durch einzelne (religiöse) Lieder komplettiert wird. Das spiegelt auch die Stimmung wider, die eine ungewöhnliche Mischung aus Ausgelassenheit ("Demokratie, Demokratie, Demokratie!") und ernsthafter Sorge ist. Diese steht den größtenteils älteren Demonstranten ins Gesicht geschrieben. Sie passt auch zu der Dramatik der bereits geschilderten Plakataufschriften. Zusammenfassend sind die zentralen Forderungen meiner Gesprächspartnerinnen und -partner: Die Justizreform muss verhindert werden und die jetzige Regierung gehen. Zu diesem Zweck verabredet man sich anschließend für nächste Woche ein weiteres Mal. Fuad Giacaman, Co-Präsident des AEI, analysiert die politische Lage in Israel/Palästina und folgert daraus seine Vision für ein friedliches Zusammenleben ![]()
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May 2023
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